Meine Stationen der Veränderung

Meine Stationen der Entwicklung und Veränderungen, seit ich mich Ende 1987 dem Blauen Kreuz angeschlossen und 1990 eine Therapie auf dem "Höchsten" angetreten habe, wurden von mir schriftlich festgehalten. Ich bin noch heute davon beeindruckt und möchte Ihnen davon berichten. Jeder hat sein ganz persönliches Erleben in der Suchtaufarbeitung und es darf nicht verallgemeinert werden.

Der Weg zu einem "neuen Leben" läuft nicht im Eilverfahren ab. Es ist ein Weg der kleinen Schritte mit aller Konsequenz des eigenen Wollens und der Aufrichtigkeit. Er beinhaltet für mich also absolute Abstinenz als absoluten Garanten für ein freies Leben. Sonst wäre für mich der mühsame, jahrelange Einsatz verlorene Zeit. Wo immer wir uns verändern wollen, wo immer es darum geht, irgend eine negative Verhaltensweise, Eigenschaft oder Lebensform dauerhaft zu verändern, ist diese Konsequenz nötig; und sie fordert wirklich alles von einem ab.


Zu den Stationen der Veränderung und dem Weg der kleinen Schritte:

Station 1:  Steigerung des Bewusstseins / Selbstkontrolle

Nachdem ich es endlich eingesehen hatte und dazu stand, dass ich alkoholabhängig bin, kam der dringende Wunsch auf (von der Fachklinik Höchsten kommend wieder daheim) alles, aber auch alles - mein ganzes Leben - umzukrempeln, auszuräumen, umzuräumen, zu ordnen, äußerlich und innerlich. Dieser Druck war ungeheuerlich. Alles bekam einen neuen Platz, einen neuen Sinn, sogar der ganz normale Alltag. Und diese Veränderung ist bis heute noch immer nicht abgeschlossen.

Station 2:  Soziale Befreiung

Das ist wie ein Erwachen aus einem vom Alkohol erzeugten Dauerschlaf, einem Benommensein, einer Resignation, einer Blockade, einem Stillstand und Zwang. Also nichts wie raus! Und wie? Durch wöchentliche Gruppenbesuche seit nunmehr 11 Jahren, Gespräche, durch Eigeninitiative (Besuch der Bibelabende, Seminare, Vorträge, Fortbildungen), durch ein gesundes Leben (Ernährung und Schlaf) für Körper und Geist. Alle Möglichkeiten wurden überprüft und von mir gelebt, welche mir Kraft geben, auf diesem Weg zu bleiben. Dabei ist mir der Anspruch "Nur das Beste ist gut genug für mich" wichtig geworden,  also sich auf das Wesentliche einlassen.

Station 3: Wachrütteln der Gefühle

Der Veränderungsprozess weist auch auf, wie hellwach der Mensch wieder wird. Aufmerksam, beobachtend, empfindsam, feinfühlig, geduldig, beurteilend, auch kritisierend. Die Scham und Unsicherheit verschwindet, das Sprechen und Erzählen beginnt wieder. Aufbruchsstimmung im Kopf, Verstand, Herz und Gemüt, und manchmal breche ich noch heute vor Freude darüber in Tränen aus.

Station 4:  Selbsteinschätzung

Nicht nur ich sehe mich neu, die anderen auch. Nicht nur ich spüre, dass ich wieder "ein normaler Mensch" bin, sondern die andern auch. Es wird mir wieder mit Vertrauen begegnet und rückblickend sehe ich, wie grausam unvernünftig ich mit meinem Leben umgegangen bin, zerstörerisch. Jetzt spüre ich, wer ich ohne dieses Suchtproblem bin!

Station 5:  Fester Vorsatz

Einem Vorsatz treu zu bleiben erfordert, immer die Augen auf einZiel gerichtet zu haben. Äußere Werte werden nicht mehr so ausschlaggebend, aber innere Werte (wie Glücklichsein, Zufriedensein, Erlöstsein, Befreitsein, Angenommensein) sind es, die froh machen und Kraft geben. Das muss man erst einmal begreifen!

Station 6:  Selbstkontrolle

Wer sich noch immer nicht sicher fühlt und Angst hat vor Anfechtungen, die zum Leben gehören und niemals ausbleiben, darf Mitmenschen bitten, ihm zu helfen, ihn zu unterstützen, auch einmal Rücksicht zu nehmen. Aber die eigentliche Arbeit muss ich selbst tun. Ich darf mich keinen Versuchungen mehr aussetzen, genau so wenig alte Bekannt- und Freundschaften wieder aufgreifen. Nur so wird die Gewissheit immer stärker: "Ich gehöre nicht mehr zu den Süchtigen"!

Station 7:  Belohnung und Kritik

Für gute Leistung bekommt der Mensch z.B. Gehaltserhöhung, Beförderung, Anerkennung, Lob und ein gutes Zeugnis. Für schlechte Leistung gibt es Rüge, Ermahnung, Abmahnung, Strafe und zuletzt Entlassung. Beide Maßnahmen haben ihre absolute Wirkung - Lob und Tadel. Bei uns Alkoholkranken ist es derselbe Ablauf. Aber es gibt für uns ein Sicherheitspapier: Die blau-weiße Verpflichtungskarte mit dem Hinweis: "Der Herr lässt es den Aufrichtigen gelingen".  Ich trage sie bei mir.

Station 8:  Stützende Beziehung

Ich möchte sagen, dieser Punkt ist beim Prozess der Veränderung ein ganz wesentlicher. Neue Beziehungen entstehen, wachsen und können auch wieder funktionieren. Vorsicht ist aber auch hier angesagt. Die Gruppe und unsere Gemeinschaft ist eine stützende Funktion, damit ich mir neue, gute Kontakte richtig aufbaue und mich nicht mehr "hineinstürze". Gute Beziehungen geben dem Menschen ein Wertgefühl und jeder braucht diese Gewissheit.

Alle erzählten Veränderungspunkte sind aus einem Pfingsterlebnis 1990 erwachsen. Im letzten Drittel meiner Therapiezeit auf dem Höchsten (etwa in der 12.Woche) war ich in einem Gottesdienst, damals gestaltet von Herrn Dr. Haßfeld in Wilhelmsdorf. Es war Pfingsten das Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes. Ich wusste von der Bedeutung dieses Festes bis zu diesem Zeitpunkt nichts und schämte mich in aller Stille. Aber die Worte von Dr. Haßfeld ließen mich auf einmal alles verstehen und so wurde Pfingsten 1990 zu "meinem Fest". Unter dem Klang der Posaunen und Trompeten begann mein Herz rasend zu klopfen. In der Sucht lebte ich in einem sehr komplizierten Dreieck-Verhältnis Mutter – Sohn - Partner, dem ich nicht gerecht werden konnte. Dieses Dreieck-Verhältnis wurde ausgewechselt in eine Beziehung im Glauben an Gott, die mich gesund werden ließ.

Als wir Frauen dann nach dem Pfingstgottesdienst wieder in unsere Klinik fuhren, spielte bei der Ankunft der Posaunenchor vom Turm auf dem Höchsten den Choral "Lobet den Herren". Ich wusste, das galt mir. Durch Gottes Hilfe und sein Wort durfte ich erkennen, dass er mich erlöst und mir wirklich zu einem neuen Lebenssinn verholfen hat. Ihm sei Lob, Preis und Dank dafür.

Elisabeth Beigel 

Biberach, Juni 2001

Elisabeth Beigel gehört zum Blaukreuz-Verein in Biberach
Ihre Anschrift lautet: Johannesstraße 31, 88447 Warthausen

Sie möchten helfen?
Spenden Sie online. Schnell und sicher.